Auszüge aus den Tagebüchern von Thea Sternheim
Berlin, Meierottostrasse 10, 6. Juli 1928
Wie ich an der Fertigstellung des endlich mir von Frau Dr Nadel abgelieferten Schippelmanuskripts arbeite, überkommt mich gleich die Freude an der Arbeit an sich. Ach, das schlimmste an meinem jetzigen Lebenszustand ist vorzüglich die Tatsache, die Eingangspforte zu der mir gemässen Arbeit noch nicht überschritten zu haben und Mangel an Geduld. Im übrigen beeinflusst meine Gegenwart unbedingt die Entschlüsse der Kinder. Beide sehen ein, dass durch ernstliche Betätigung die finanzielle Lage unserer Zukunft sich ganz anders gestalten würde, als wenn wir zu dritt nur auf das vom Bilderverkauf zu entstehende Vermögen angewiesen sind. Zum erstenmal sind beide fieberhaft auf Anstellung bedacht.
Mittagessen mit Klaus bei Rieder. Dann weitergearbeitet. Gewitterregen. Gegen sechs in das Stadtzentrum. In den eigentümlichen wieder neu aufgenommenen Film »Gier nach Geld« zu dem die Billets nur mit der ausdrücklichen Begründung, dass keine Eintrittspreise zurückerstattet werden, verabfolgt werden. Dabei ist dieser Film, der bei seiner Premiere nur Skandal und fluchtähnliche Panik veranlasste, sicher einer der anständigsten, die je gedreht wurden. Stellenweise genial, manchmal in Sternheim’sches Fahrwasser übergehend ist es gradezu Erlösung einmal etwas anderes als Edelmut und Schönheit gezeigt zu bekommen. Warum soll das Schäbige, das eine so ausschlaggebende Rolle im heutigen Leben spielt, nicht auch auf der Leinwand gezeigt werden? Ausgezeichnet die Hochzeit des amerikanischen Spiessers. Die danach einsetzende Brautnacht. Bravo Stroheim!
Bei der Omnibusfahrt in den Westen werden mir an diesem Abend mehr Eröffnungen über das Leben der Grossstadt als sonst in Monaten. Die ist ein bis in den letzten Winkel mit ähnlichen Ereignissen wie den eben im Kino vorgeführten angefülltes Sodom! Aber auch die Gerechten sind am Werk: ach, meine Seele hat den ihr so oft ausgeteilten Segen eines lauteren Mannes wie Pater Franziskus es ist, schon wesentlich aus einer beruhigenden Wirkung gespürt.
Um zehn bin ich in der Pension.
Klaus, schon zu Bett, berichtet von Brohs telefonischem Anruf. Er habe schon wieder einen anpöbelnden Brief von Sternheim bekommen. Sonst sei Broh mit der ihm von mir erteilten Antwort in Sachen Henseler zufrieden.
Dann vollende ich andächtig - o wie dankbar gegen Stendhal! »Le Rouge et le Noir«. Taine, sagt man, soll dies Buch fünfzigmal gelesen haben. Auch ich werde es im Lauf meines Lebens auf zehnmal bringen.
An diesem Abend bin ich selig meine grosse Liebe für Stendhal erneuern zu dürfen. Welches Glück käme dem Glücke gleich, ehrfürchtig sein zu können! Mit zwanzig, dreissig, vierzig Jahren stelle ich Stendhal als Glücksspender in mir fest. Das in seiner Gegenwart empfundene Glück ändert, vermindert sich nicht. Diesmal ist mir zu Mut, als ob ich aus Gründen der Gleichaltrigkeit (Stendhal schrieb Le Rouge et le Noir in demselben Alter, in dem ich mich jetzt befinde) dies Buch tiefer begriffe als je.
Paris, 24. Mai 1945
Der sich die Führerschaft über den Kadaver Deutschland anmaassende Admiral Doenitz wird von den Alliierten dieses Amtes entsetzt, mit seinem Stab gefangen genommen. Ein Admiral von (Textlücke) (er ist einer derer, die die totale Übergabe unterzeichneten) nimmt sich bei dieser Gelegenheit in höchst folgerichtiger Weise das Leben. Es geht überhaupt wie im 5ten Akt eines Shakespeareschen Dramas zu. Der Henker Himmler, von den Engländern gefangen genommen, vergiftet sich, indem er ein im Mund verstecktes Röhrchen mit Ciankali aufknackt und verschluckt.
Am Nachmittag besucht mich Ste Suzanne. Aufrichtige Freude den feigen, aber durch keine Mord- und Racheinstinkte belasteten Freund wiederzusehen! Während vier Stunden kommt kein Wort aus seinem Mund, das nicht von der Korrektheit seines Herzens zeugte. Er kehrt von Sevilla zurück, wo er Konsul war, und ist wie alle unter dem Regime Pétain Beamteten kaltgestellt. Wie schade, dass ein so vorzüglicher Kenner Deutschlands diese Kenntnisse nicht zum Nutzen der allgemeinen Befriedung anbringen kann! Begeht die provisorische Regierung nicht überhaupt einen Irrtum beim Epurationsverfahren sich den Forderungen der nicht urteilsfähigen Massen unterzuordnen? Zählt man die Opfer der Reinigungsaktionen zusammen, geht die Zahl der Gerichteten in die Tausende. Überdies lässt die jetzt überall angewandte Methode des kalten Terrors keine Romantik zu. Kein Lamartine vermöchte aus der russischen Revolution eine Geschichte der Gerondisten zu machen. Sogar die Götzendämmerung Deutschlands entbehrt der individuellen Anekdote. Einzig um Mussolini bildet sich ein Kapitel was man als »Chronique italienne« bezeichnen könnte.
Paris, 25. Mai 1945
Zum Hôtel Lutetia auf dem Raspail. Das Gerücht ging im Bistro, die ersten der nach Schweden geretteten Deportierten seien zurückgekehrt.
Nichts dergleichen. Eine Weile sehe ich mir die unbeschreibliche Erregung der ihre Gefangenen Erwartenden an. Der Auskunft erteilende junge Mann bringt kaum die Kräfte auf, jedem der Fragenden Antwort zu geben. (...)
Paris, 28. Mai 1945
Der erkälteten Janie Bussy SOSruf. So sehr es mir widerstrebt, unabgesprochen in die Rue Vaneau vorzustossen, so sehr bin ich andererseits bedacht Janie, die so freundschaftlich mit mir war, nicht zu verletzen. Ich kaufe ihr die schönsten Kirschen, die ich auftreiben kann.
Ich finde sie zum ersten mal ausser dem Bett mit Gide im Wohnzimmer Mme van Rysselberghes. Der Beiden offenbare Freude über meinen Auftritt. Ihre Herzlichkeit ist so aufrichtig, dass ich mir wie so oft in meinem Leben meine übertriebene Sensibilität vorwerfe. Ich hatte diese Sensibilität übrigens bereits abgelegt. Der Auftritt Ludovicos hat durch sein ausserordentliches Wissen um die Belange der Freundschaft noch einmal auch die mir eingeborene Begabung angefacht, mich sozusagen meiner Natur noch einmal zurückgegeben. Nichts ist erquickender als sich nicht anpassen zu müssen, seine Talente spielen zu lassen. Dass ich sie mit Janie und Gide in nur dosiertem Maass spielen lasse, steht fest.
Dorothy Bussy ist bereits in London angekommen. Janie vergeht vor Erregung, der Mutter bald folgen zu können. Wie schon so oft berührt mich Simon Bussys selbstverständliche Ruhe angenehm.
Gide möchte mir allerlei schenken. Deutsche Bücher, die man ihm widmete, die er aber nicht zu lesen vermag. Fast nie eine Geste bei ihm, die nicht gleichzeitig mit seinem Wohlwollen auch einen Degradationsfaktor einschlösse. Dass sich heute das Wohlwollen auf mich, das Degradationsverfahren auf einen anderen entlädt, spielt bei dieser Entdeckung kaum eine Rolle. Die Sonnenatmosphäre der Freundschaftlichkeit wird durch solche Finasserien getrübt.
Gegen Abend kommt Maria van Rysselberghe überaus ermattet von dem Recensement aller Fremden in Frankreich zurück. Ohne den Reçensementvermerk auf den Idenditätspapieren bekommt man keine Alimentationskarte. In der ungeheuren Masse der Wartenden, der tagelang Wartenden sollen sich die tollsten Erregungszustände abgespielt haben. Wie der Jude unter dem Hitlerregime hat der Deutsche vor der universalen Gehässigkeit es bereits aufgegeben, sich über die Anmaassungen der Staatsgewalt aufzuregen.
Paris, 25. Februar 1954
Das tragische Schicksal Wildes, das mich schon als junge Frau nachhaltig beeindruckte, Veranlassung zu einer nie auslassenden Beziehung gab, bewegt mich auch heute, nachdem fast - fünfzig Jahre nach unserer ersten Begegnung vergangen sind derart, dass ich die Nacht total schlaflos verbringe. Natürlich ist mein Fassungsvermögen anders geworden; ich begreife jetzt Dinge, die ich bei der ersten Lektüre nicht zu begreifen imstande war; andererseits scheint mir manches, das mir damals besonders wichtig vorkam, irrevalenter, ja mehr noch, ich muss Herman rechtgeben, der Wildes Aufzählung der für Alfred Douglas gemachten Ausgaben nicht besonders grosszügig findet - und doch bleibt »De Profundis« eines der erschütterndsten Dokumente sowohl des menschlichen Elends als auch der menschlichen Würde. Eine jener Daseinsbilanzen in der es sich um den Kampf mit dem Engel handelt.
Es ist anzunehmen, dass Gide in seinem »Et nunc manet in te« die Intensität des Wildeschen Bekenntnisses vorgeschwebt haben mag. Er hat den Iren stilistisch auch erreicht, vielleicht übertroffen; aber trotz der Brillanz seines Stils bleibt das Gidesche Bekenntnis an dem Wildeschen gemessen unter den unzähligen Sonderbarkeiten seines Lebens eine Art Fait divers. Gefühlsmässig scheint mir Wilde in enger Beziehung zu Baudelaire zu stehen.
Zum Abendessen Mopsa. Wir gehen ins Kino Montrouge. Walt Disney’s: »Peter Pan«; welch ein Absturz ins Walzenhafte. Der Traum am laufenden Band.
Dr Merlin, von seinem langen Aufenthalt auf dem Lande zurück lässt sich sofort angelegen sein die Ursachen von Mopsas gesundheitlichem Tiefstand aufzudecken. Wo die anderen Ärzte Blasen- und Darmdefekte entdeckten, diagnostiziert Merlin sowohl in den Harn- als Verdauungswegen das Vorhandensein von Streptokokken.
Paris, 28. Februar 1954
Das, was man hierzuland »les giboulées de Mars« nennt, was in nördlicheren Zonen »Aprilwetter« heisst.
Zum Abendessen bringt Mopsa den von Amerika eingetroffenen Walter Mehring an, der, nunmehr mit einer Französin verheiratet, sich dennoch in keiner Weise verändert hat, noch immer die Physiognomie einer Maus aufweist, sich wie vor zehn Jahren kleidet, bewegt und wahrscheinlich denkt, trotz inzwischen erlangter amerikanischer Staatsangehörigkeit wie seinerzeit Pfemfert den Begriff dessen gibt, was man sich unter einem hellen und schlagfertigen Berliner vorstellt. Vor Nervosität hin und wieder aufspringt, einen Rundgang durchs Zimmer auszuführen.
Von ihm erfahren wir:
Dass der Tod von Heinrich Manns Frau viel tragischer ablief, als wir es bisher wussten. Dass nämlich die Kröger in betrunkenem Zustand ihr Auto steuernd einen Menschen überfuhr; dass man sie, um sie vor dem Gefängnis zu retten in eine geschlossene Anstalt verbrachte, wo sie sich dann selber das Leben nahm.
Dass Heinrich Mann, total vereinsamt und unbeachtet sein Leben beschlossen hätte,
Dass Valeriu Marcu ausgerechnet auf dem Bett von Treviranus gestorben wäre; dass zur Zeit seines Todes Tollers Witwe einem Kind von ihm das Leben gegeben hätte,
Dass Kurt Wolff durch seine Frau zum Katholizismus übergetreten wäre, durch geschickt ausgenützte Beziehungen eine gewisse Rolle als Verleger und - Kulturfaktor spiele,
Dass der in Amerika erfolgreichste Autor der deutschen Emigration - Lion Feuchtwanger sei,
Dass Pfemfert, ehe er nach Mexiko auswanderte ein photographisches Unternehmen in Hollywood aufgemacht hätte, jetzt aber an einem Krebsleiden lebensgefährlich erkrankt sei,
Dass Else Lasker Schüler in Jerusalem verstorben sei,
Dass er, Mehring, der Lasker Schüler habe schwören müssen Benn wegen seines Bekenntnis zu Hitler nie mehr die Hand zu geben,
Dass Francesco von Mendelsohn sich in einer geschlossenen Anstalt befände,
Dass Friedrich Eisenloher während des Krieges einer höheren SSformation angehört hätte,
Dass man Walden, den Herausgeber des »Sturms« wegen Nichtanpassung an die Sowjetaesthetik in Russland erschossen hätte,
Dass Becher (der Sohn eines bayerischen Polizeipräsidenten) sich als einer der erbarmungslosesten und rachsüchtigsten Bonzen des Kommunismus herausgestellt hätte,
Dass Edschmid den Ruf eines Altmeisters der deutschen Literatur genösse,
Dass Konrad Heiden sich in Amerika verheiratet habe.
Dass Thomas Mann nunmehr in Zürich amerikafeindliche Tendenzen herauskehre. -
Mopsa, wenn auch angestrengt von der Behandlung mit Sulfamiden sieht dennoch wohler aus als in den vergangenen Wochen.
Paris, 4. März 1954
(...) Abends esse ich, von Mopsa eingeladen mit ihr im Petit St Benoit. Der Eindruck einer fast Rabelais’schen Heiterkeit die die Wirtsleute und die Trabanten des so sympathischen Restaurants ausstrahlen. Aber kaum im Panthéonkino angelangt beginnt Mopsa unter ihren Verdauungsspasmen zu stöhnen um bald darauf, von mir gefolgt, dem Saal zu entfliehen, im kalten Regen den Boulevard Mich auf und abzulaufen. Dazwischen in einem Kaffee niederzusitzen, einen Pfefferminztee zu trinken, erneut zu wandern, schliesslich ein Auto zu nehmen, nach Hause zu fahren. In welchen Abgrund der Trübsal mich dieser Zustand stürzt! Denn das habe ich zu oft mit Sternheim und Mopsa erlebt. Diese lähmende Angst, die schliesslich in dem Schuldbewusstsein endet Sternheim geliebt, mit ihm Kinder gezeugt zu haben. Als ob mir das Recht versagt wäre mich einmal einen Abend harmlos zu freuen.
Paris, 5. März 1954
Wie stets nach solchen Eindrücken verbringe ich eine schlaflose Nacht. Schliesslich gelingt es Rabelais durch die Intensität seiner Lebensbejahung, durch den Flug seiner Phantasie den an Verzweiflung grenzenden Zustand zu mildern. Aber dennoch hängt Mopsas Gesundheitszustand, die Verheerung die sie durch Drogen, übertriebenen Alkohol- und Tabaksverbrauch und schliesslich durch ihre jedes Maass ablehnende Sensationslust, die sie wahrscheinlich über ihre Kräfte zu leben zwingt, wie ein Damoklesschwert über mir. Ich kann das Schuldbewusstsein nicht loswerden kein Kind geboren zu haben, dem es gelungen wäre, die Gegebenheiten einigermassen zu meistern. Aber was gelang denn mir selber? Was habe ich aufgebaut, fertiggebracht, besser als andere gemacht? Siebenzig Jahre und welch unlösbares Rätsel scheint mir noch immer das Leben!
Fräulein Wilkens hat mir die gerade erschienene Erzählung von Thomas Mann »die Betrogene« geliehen. Wie es sich aus der Umschlagsnotiz ergibt, scheint es sich um eine ältere Arbeit zu handeln. Es wäre auch kaum vorstellbar, dass ein einigermassen verantwortungsvoller Mensch, der die Erfahrungen des Hitlerianismus hinter sich hat, noch einmal eine derartig bürgerliche Vermottung hervorzuzaubern Veranlassung fände. Sicher hat Benn den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er Thomas Mann Hang zum »Pläsirlichen« nachsagt; in dieser Erzählung stelle ich vielmehr eine ihm auch eignende Hämischkeit fest.
Basel, 4. Januar 1964
Gleich nach dem Aufstehen streiken meine Kräfte. Ohne ärztlichen Beistand geht es nicht weiter. Ich telefoniere ans Hôtel Drachen um die Adresse eines Arztes. Sie empfehlen mir einen Doktor Paris in der Dufourstrasse. Ich telefoniere ihm. Man antwortet mir er könne unmöglich kommen; ich solle versuchen um 11 Uhr zu ihm zu kommen. Ich sage: »Gut. Ich komme.«
Ich kleide mich mühsam an.
Der Chauffeur des kurz vor 11 Uhr bestellten Autos schellt an der Etagentür. Der Chauffeur, Herman und ·undÒ ich nehmen das Lift. Beim Hinabfahren verliere ich das Bewusstsein und breche zusammen. Als ich wieder zu mir gekommen bin laden der Chauffeur und Herman mich in das Auto. Zur Dufourstrasse. Per Lift in Dr Paris Wohnung. Plötzlicher Drang. Zur Not gelange ich noch auf die Toilette. Sehr dunkles Blut beginnt in Strömen zu fliessen.
Der sympathische Arzt sagt: Spital. Telefoniert herum zu erfragen wo Platz ist. Mehr bewusstlos als wahrnehmend werde ich von Herman per Taxi zum Bethesdaspital in der Gellertstrasse gefahren. Eine Pflegerin kleidet mich aus, leiht mir ein Nachthemd, legt mich zu Bett. Am Frühnachmittag die erste Bluttransfusion. Schmerzen am Magen. Durst Durst. Manchmal gewahre ich Herman. Ich bin betrübt ihn mit meiner Not zu belästigen.
Basel, Spital, 11. Januar 1964
Die Roentgenaufnahmen weisen ein pflaumengrosses Magengeschwür auf.
Basel, 14. Februar 1970
Die Liste der für Marbach bestimmten Bücher weitergebracht.
An der Television staune ich über die mit Schweissausbruch und totaler Erschöpfung verbundenen Schaustellungen des von der deutschen Jugend offenbar frenetisch geliebten Chansoniers Udo Jürgens. Offenbar verkörpert der grosse, schlanke und eher gütig als siegreich wirkende Mann den Typ des zur Zeit erträumten Ideals.
Jedenfalls ist auch mir seine sich restlos verausgabende Inbrunst ertäglicher als das zu Mord auffordernde Gebrüll der Hitlerhorden.
Basel, 21. Mai 1970
Die zweite Begegnung der feindlichen deutschen Brüder in Cassel:
Da glaubt man sich losgelöst aus dem nationalen Verband, in einem Zustand, den man als Gelassenheit bezeichnen möchte und plötzlich gewahrt man, dass auch das nur teilweise stimmt. Dass man sich freier glaubte als man realiter ist. Würde ich, wenn ich wirklich gelassen wäre so gespannt vor der Television sitzen den aus dem Instinkt und nicht aus dem Verstand steigenden Ausdruck jahrhundertlanger Verbundenheit der Sprache, der Bräuche, des gemeinsamen Werdens, der Solidarität erwartend.
Nichts dergleichen!
Fahrplanmässig rollt der aus Osten kommende Zug Stoph und seine Suite an.
Brandt und seine Suite erwarten die Ankommenden auf dem Bahnsteig.
Begrüssung.
Die aus dem Osten steigen aus.
Schreiten gemeinsam und ernst über den während der letzten Tage vielfach erwähnten roten Teppich. Wie schon bei den Erfurter Treffen finde ich wieder in welchem Maass Stoph dem gealterten Masereel ähnelt.
Die beiden Sozialisten so nebeneinander zu sehen - unwillkürlich denke ich an die Worte die der König von Sachsen 1918 bei seiner Ent(t)hronung gesagt haben soll: »Nu, dann macht euch euren Dreck alleene ...« Verwunderlich dass die Verwirklichung noch immer auf dem roten Teppich stattfindet. Die Regierungsformen wechseln; die Symbole bleiben.
Vor dem Bahnhof die Fahne der deutschen demokratischen Republik neben der der Bundesrepublik.
Die beiden Suiten besteigen die Autos.
Die Wagenkolonne setzt sich in Bewegung.
Die Strasse ist überfüllt. Viele tragen Schilder mit Aufschriften und Spruchbänder. Hin und wieder werden rote Fahnen geschwenkt.
Mir scheint die Forderung die D.D.R. anzuerkennen ist der am häufigsten gestellte Wunsch(,) vielleicht aber auch der, der mit Vorzug gefilmt wurde. Die Objektivität in der Berichterstattung ist ein selten erreichter Fakt. Im Grossen und Ganzen kein Slogan, der Sehnsucht nach Wiedervereinigung ausdrückte.
Wo sind die in dieser eher proletarisch als bürgerlich wirkenden Masse die bei sonstigen Veranstaltungen der Bundesrepublik auftretenden Vertreter der besitzenden Klassen, die Wähler der beiden christlichen Parteien? Offenbar sind sie, entrüstet über die sozialistische Machtergreifung, entsetzt über die fianziellen Konsequenzen des sozialistischen Regimes grollend zu Hause geblieben. Wäre es nicht eindrucksvoller gewesen wären zwischen den der D.D.R. meist entgegenkommenden Wünschen auch die Sehnsucht nach Frieden einigermassen zum Ausdruck gekommen wäre? Hätte dies sacrosankte Wort in Riesenlettern am besten in allen Sprachen geschrieben das ausgedrückt, was schliesslich und endlich doch alle, die guten Willens sind, wollen müssen!
Statt dessen reisst ein siebenzehnjähriger Bursche aus missverstandenem Patriotismus oder aus dem Drang eine Rolle zu spielen die aufgezogene Fahne der D.D.R. herunter, kommt es, als Besucher und Besuchte gemeinsam zur Gedächtnisstätte der nationalsozialistischen Widerstandskämpfer pilgern wollen zu Schlägereien. Die Bemerkung, die Stoph gemacht haben soll, dass die Bundesrepublik noch nicht imstande wäre geordnete Zusammenkünfte zu garantieren, scheint mir berechtigt.
Ich kann mir nicht helfen, ich finde die Tschecho-Slovaken haben bei der Konfrontation mit dem Sieger einen weitaus erschütternderen Ausdruck gefunden als heute die Deutschen.
Auf was kann man im deutschen Fall hoffen wenn nicht auf Europa?
Basel, 26. September 1970
Nicht sprechen, vor allem nicht angespannt hören zu müssen verbringe ich mit Wendlers 3 1/2 Stunden des Nachmittags im Cinema Plaza den amerikanischen Dokumentarfilm über das Jugendtreffen in Woodstock über uns ergehen zu lassen. Diese Zusammenkunft von 400.000 Jugendlichen also fast zweimal der Bewohner Basels ohne jegliche Stätten an Unterkunft auf verhältnismässig engem Platz zwecks Anhören musikalischer Veranstaltungen zusammengepfercht, zeitweilig einem Gewitter ausgesetzt und im Schlamm vegetierend, eine Nacht auf blosser Erde nur in Decken gehüllt verbringen zu sehen lässt einen natürlich einen bisher unvorstellbaren Einblick in die Lebensweise der jetzt Heranwachsenden tun ohne einem dabei das was sie beabsichtigen und wünschen näherzubringen. Da scheint in der Tat eine für meine Generation unfassbare Massenanpassung Form zu werden, auch so etwas wie eine geschmackliche Gleichschaltung stattzufinden. Denn irgendwie muss dieses mit Verrenkungen und Schweissausbrüchen durchsetzte Geheul ihren Gefühlen gemäss sein. Wie vermöchten sie es sonst zu ertragen?
Wie nach einer körperlichen Anstrengung ermattet essen wir im Steinenklösterli zu Nacht.