Über ein steiniges Feld gehen drei Gestalten. Olivenbäume werfen kleine kugelige Schatten. Auch im Gelände um die Quinta sind helle Granitbrocken ein Hinweis auf neueste Brände. Nur da, wo das Feuer nicht hinkam, sind die Felsen flechtenüberzogen, schwarz grau grün.
Eine Landschaft, als hätte es Steine geregnet. Wer kann da pflügen und pflanzen. Seit Jahrhunderten werden die Steine aufgelesen. Eine eigene Kunst, sie unverputzt ineinander zu fügen, so dass haltbare kleine Mauern entstehen. Sie halten die Erosion des Bodens auf, markieren Grundstücke. Die Hirten hatten Durchgänge für sich und ihre Kuh- und Ziegenherden. Wenn aus den Mäuerchen Steine gefallen waren, legte man sie sorgfältig wieder zurück. Wer treibt jetzt, wo es billiges Futter gibt, seine Tiere noch weit durchs Gelände? Wer hält Ziegen?
Auch der Ginster ist zur Pest geworden, erklärt die Malerin Lino Rupert und Marie. Nach jedem Brand wächst er zuerst wieder nach. Er wuchert über die Schößlinge meiner Kastanien. Er trocknet die Erde zu Staub. Ihr findet, Ginster blüht schön? Widerliches Unkraut. Ist schwer fortzureißen. Früher konnte man es zahm halten. Ginster war ein Diener, heizte, deckte im Winter nasse Wege, oder er wurde ein Hut für die Hütten. Auch der Farn war kein Gegner. Als ich klein war, brauchte man ihn als Besen, als Streu für die Tiere. Immer fand sich eine Möglichkeit für das Unmögliche. Jetzt wird vieles eine Plage. Nur die Zicklein knabbern manchmal frische Triebe vom Ginster, das ist gut. Sie fressen auch von kleinen eingezäunten Eichen. Nicht gut.
Zwanzig Jahre lang hat Lino in Hamburg gelebt, jetzt ist sie wieder hier. Ihr Mann, ein deutscher Anwalt, wollte seine Praxis aufgeben, in Portugal im Alter noch mal neu anfangen. Dann bekam er Angst vor seinem Mut. Dann traf er eine alte Schulfreundin, so hanseatisch wie er selbst. Lino gab ihm ein halbes Jahr, dann zog sie allein zurück in ihr portugiesisches Dorf. Eine fünfzigjährige Malerin und Bildhauerin, ohne Mann, ohne Kind. Ihre Brüder halfen ihr. Sie hatten auch Fragen. Man spricht aber nicht viel in der Familie, vor allem nicht von der Vergangenheit. Lino ist ein Granit, ein Fuchsauge, und sie lebt jetzt, jetzt, jetzt.
Lino nimmt sich Zeit, mit ihren Freunden weite Wege zu machen, Kreise um die Quinta, und um ihr Dorf. Sie zeigt nach Norden, da liegt die Serra da Estrella, das Sternengebirge. Sie erklärt nicht nur. Ihre Hände sind nebenher beschäftigt. Sie reißt Ginsterstauden aus dem Weg, legt Steine zurück in die Mauern, sammelt Pilze auf und Esskastanien. Nie geht sie ohne Korb aus dem Haus.
Abends gibt es ein Festessen, zu Ehren von Marie und Rupert. Sie achtunddreißig, er einundsiebzig. Ihr zehnter Hochzeitstag.
Sie haben sich doch kaum erst umgedreht.
Rupert hat einen Vogel aus Papier für Marie gefaltet. Viel später erst entdeckt sie, dass er ihn beschriftet hat.
Noch einmal zehn?
Na, wolln mal sehn.
Sehr schön, sehr schön
Sagt Else Klöhn.
War einundneunzig - stöhn.
Rupert seufzt unwirsch. Er raucht noch eine letzte. Die Geranien im Salon hat er wie üblich vormittags gegossen, und abends muss er nicht mehr nach der Post sehen. Auch das Geschirr ist abgewaschen. Jetzt hilft alles nichts mehr. Jeden Samstag derselbe Dreck. Er schaltet im schmalen, kalten, immer gelüfteten und doch muffigen Bad den Heizofen an, auf dem unter Flocken von Staub noch der Schriftzug PUSTEFIX lesbar ist. Aus dem Schrank in der Schlafkammer sucht er sich frische Wäsche, zieht in der Küche knurrend die Schuhe aus und den dicken Pullover, Hemd und Hose. Sträfling auf Socken, er tappt ins Bad. Grüß die Kinder, sagt er zu Marie, bevor er die Tür schließt. Zur Stunde des Duschens dreht sie in der Küche den Radiorecorder auf, sehr laut. Chris Barber, hilf. Das Plätschern im Bad dauert nicht lang. Dann steht er barfuß auf der gebrauchten Wäsche. Sein Leibchen, das er über dem Unterhemd trägt gegen Rückenschmerzen, nennt er gern boshaft Fleischteil. Immer zieht er sich schnell wieder an.
Vor dem kaum beschlagenen Spiegel im Bad, er feuchtet den Rasierpinsel an und schäumt ihn ein mit Pears Soap. Das leichte Schaben des Rasiermessers, der konzentrierte selbstvergessene Blick. Dann wischt er die Schaumreste ab, besonders hinter den Ohren. Er greift nach dem Lavendelwasser, klopft sich ein paar Spritzer aus dem Flakon ins Gesicht. Marie flattert glücklich geschwätzig um ihn rum, während er Rasierzeug und Waschbecken säubert. Aus dem Weg, sagt er, und spritzt ihr ein paar Tropfen Wasser ins Gesicht. Ihr Kuss ist wie ein Schnabelhieb.
Liebster Gott, wann werd ich sterben. Die Kantate von Bach, die Einladung, für eine Anthologie über Erfahrungen mit seiner Musik zu schreiben. In einem von Ruperts frühen Romanen war flüchtig davon die Rede gewesen: Zwei Freunde hörten das zuversichtliche Singen von Jesus und Gott, von der Nichtigkeit der Welt und den tollen vergeblichen Sorgen. Meine Zeit läuft immer hin, und des alten Adams Erben, unter denen ich auch bin, haben dies zum Vaterteil, dass sie eine kleine Weil, arm und elend sein auf Erden, und dann selber Erde werden. Aus Ruperts Zimmer das Geräusch der mechanischen Schreibmaschine. Wenn er den Raum verlässt, bedeckt er den eingespannten Bogen mit Schmierpapier. Nie spricht er über angefangene Arbeiten, nur aus Fragen und unerwarteten Wendungen in einem Gespräch lässt sich ahnen, was ihn beschäftigt. Mich rufet mein Jesus, wer sollte nicht gehen. Nichts, was mir gefällt, besitzet die Welt.
Das hat der Katholizismus dem Kommunismus voraus, sagt Rupert zu Marie, nicht nur 2000 Jahre Geschichte, auch die Welt hinter der Welt. Mit solcher Verheißung müsste es sich gut leben lassen.
Sie fragt, meinst du das sehnsüchtig? So gerne bin ich nicht zornig, sagt er.
Nichts, was mir gefällt, besitzet die Welt. Bald nach `45 war er als junger erschrockener Mensch katholisch geworden.
Er schreibt über den Komponisten Bach. Als sei dem unverlierbar die Wahrheit erschienen, vielstimmig, im Schrei seiner Arbeit. Von Sinnen singen den Irrtum der Freude. Liebster Gott, wann werd ich sterben: Der Tod als Trost, fragt Rupert sich.
Zu Kriegsende die Flucht des jungen Flakhelfers, der nichts verstand. Nach dem jahrelangen Gebrüll vom Krieg als Sinn erschien dem Jungen der Frieden als Unsinn. Es war ein Schrecken, zu leben. Rupert schreibt von einem Jungen, der gedacht hatte, bald bin ich tot. Von einem, der sprachlos ins freie Leben starrte. Die Welt besitzet nichts, was mir gefällt? Was willst du dich, mein Geist, entsetzen.
Noch weiter zurück, in die frühe Kindheit. Der kleine Junge im Bett hörte nachts Stiefeltritte, draußen marschierte SA, sein Vater Nazi, und die Mutter strickte stumm.
Wer hat gesagt, um die Wunden der Kindheit zu heilen, braucht jeder sein ganzes Leben.
Im Frühjahr ´45 meldete sich der Vater freiwillig an die Front. Er wurde in Polen nah Bielikowo erschossen. Rupert sagte in Gesprächen jahrelang, der Vater sei geschossen worden, als sei der ein toll gewordenes Tier. Jetzt fragt er sich: Will ich ihm ins Genick rufen?
Rupert schreibt, lieber Vater, lieber Bruder.
Er misstraut der Müdigkeit seines eigenen Alters. Müde, sagt er, nicht milde.
Er erinnert sich an einen Lehrer im Herbst ´45, der verstörten sechzehnjährigen Nazijungen Musik nahebringen wollte.
Bachs Lied vom guten Vater, dort. Liebster Gott, wann werd ich sterben. Wer sollte nicht gehen. Genug, dass ich dort reich und selig bin.
Rupert sagt zu Marie: Das ist das kleine Geheimnis der Gläubigen, sie haben den Trost in der Hand hinterm Rücken. Sie zeigen nach dort. Ist ein Leben jenseits vom Leben nicht auch ein Schlag ins Gesicht der Welt?
Marie zitiert Marx, die Religion als Seufzer der bedrängten Kreatur.
Ihn interessieren theoretische Debatten aber dieser Tage nicht, er sucht seinen ersten Zugang zu Bach. Der bringt ihn zu seinem Vater.
Eines seiner Kinder sagt, du schreibst hermetisch, verschlossen.
Rupert brüht frischen Tee. Bach fließt nicht nur, der fliegt, sagt er.