Theo und Schiefer warteten schon am Eingang. Etwa zwanzig Meter entfernt lief eine Frau mit Kopftuch, das ihr fast bis zum Hinterkopf gerutscht war, und Plastiktüten in den Händen hin und her. Immer nach ein paar Metern wechselte sie die Richtung, lief wieder zurück, als baute sie ein imaginäres Spinnennetz oder suchte sich aus einem solchen zu befreien. Schiefer nickte in ihre Richtung. Sie will zum Hausmeister, sagte er.
Der hat mindestens schon zwanzig Mal mit ihr gesprochen, sagte Theo und zuckte mit den Schultern. Wir schauten uns um, ob noch jemand in der Nähe war, den man nicht als verwirrt abtun konnte, dann schlichen wir ins Schulhaus. Wieder gingen wir in den Medienraum. Die Scherben waren weggeräumt, aber keiner von uns verlor darüber ein Wort. Schiefer hatte einen Rucksack dabei, den er jetzt auf dem Pult ablegte. Er packte zwei Flaschen Wein und drei Gläser aus. Wollen wir das savoir vivre nicht vergessen, sagte er und schenkte die Gläser bis zum Rand voll. Theo und ich hatten uns nebeneinander auf zwei Stühle gesetzt. Schiefer drückte uns jeweils ein gut gefülltes Glas in die Hand und ging dann an die dreigliedrige Tafel. Er erhob sein Glas, in vino veritas, sagte er, prostete uns zu und nahm einen Schluck, mit dem er das Glas bis zur Hälfte leerte.
Passt auf, sagte Schiefer, ich bin jetzt der Lehrer und du Theo verkörperst die Schüler. Und du, richtete Schiefer das Wort an mich, siehst zu, wie der Hase läuft.
Schiefer griff sich ein Stück Kreide aus der Ablage, die sich unterhalb der Tafel befand, und malte viele, viele Strichmännchen. Die ganze linke Tafelseite voll. Die Schüler sagte er, ging drei Meter nach rechts und malte auf die rechte Tafelseite ebenfalls ein Strichmännchen. Der Lehrer. Über den Lehrer schrieb er das Wort Kultusminister. Der Lehrer soll den Schülern etwas beibringen, nennen wir es Groß A. Schiefer schrieb in die Mitte der Tafel Groß A. Wie finden die Schüler das, Theo? Theo rief: blöd, saublöd. Wir wollen Groß B. Schiefer nickte anerkennend. Das machst du gut, Theo, sagte er und wiederholte: blöd, saublöd. Er malte Pfeile und Verbindungslinien an die Tafel, schrieb beibringen, blöd und Konflikt daneben und redete währenddessen ununterbrochen weiter: Groß B geht nicht, der Kultusminister hat Groß A gesagt, der Lehrer gibt sich Mühe, Groß A schmackhaft zuzubereiten, schnippelt und schnappelt Groß A zu, so wohlgefällig es eben geht, bringt Spiel, Spass und Spannung mit hinein und präsentiert das Ganze auf einem großen silbernen Tablett. Schiefer nickte Theo zu, der völlig in seiner Schülerrolle aufzugehen schien, die Beine auf den Tisch ausstreckte und sich mit lässiger Geste meldete. Das finden wir blöd, saublöd, rief er, schmier dir dein silbernes Tablett sonst wohin. Schiefer nickte, malte und schrieb an die Tafel, während er gleichzeitig weiterredete: Die Schüler werden renitent, der Lehrer bekommt Magenschmerzen, der Arzt sagt, das Geschwür ist nicht mehr weit, die Kollegen fürchten, dass sie ihn vertreten müssen. Der Lehrer vergibt schlechte Noten, die Eltern sind unzufrieden, die Schüler bekommen Stress zu Hause. Der Lehrer ist eine Niete, brüllte Theo, noch bevor Schiefer fragen konnte, was die Schüler dazu meinen. Schiefer schüttelte kurz seinen Arm aus und schrieb dann auf einen der wenigen verbliebenen freien Flecken an der Tafel: Niete. Die Eltern gehen zum Rektor, es gehe hier um die Zukunft ihrer Kinder, sagen sie, aber mit dem Lehrer sehe man keine mehr. Der Rektor sagt, so geht es nicht, und bittet den Lehrer zum Gespräch. Schiefer redete immer schneller, er schien kaum noch Luft zu holen, sein Gesicht war rot angelaufen. Schwierige Zeiten, sagt der Rektor, die allgemeinen Verhältnisse, Schüler schwierig, Eltern überfordert, schon klar, alles kein Pappenstiel, trotzdem, so gehe das nicht. Der Lehrer bekommt Tinitus und Magengeschwüre und ist insgesamt in keiner guten Verfassung mehr, das findet die Frau des Lehrers nicht so gut, so hat sie sich das nicht vorgestellt, er selbst auch nicht, um es sich anders vorstellen zu können, fängt er an zu trinken. Das findet der Arzt besorgniserregend und schreibt den Lehrer krank. Das gefällt den Kollegen gar nicht, denn nun müssen sie ihn vertreten, das wiederum können die Eltern der Schüler nicht gutheißen, wie Vertretungsunterricht aussehe, das wisse man ja. Die Eltern beschweren sich beim Minister, das findet der gar nicht gut, wirft ein schlechtes Licht auf ihn, hat er doch nicht verdient, denkt der, gibt eine Presseerklärung heraus, sagt, die Lage sei stabil, daran könne ein schwarzes Schaf nichts ändern.
Wie ein Irrwisch sprang Schiefer an der Tafel hin und her, malte Pfeile und Verbindungslinien von links nach rechts, von oben nach unten, kreuz und quer, ich hatte den Überblick vollkommen verloren, war aber fasziniert, wie Schiefer immer weiterredete und jeden Fleck an der Tafel bemalte und sich von Theo, der auf seinem Stuhl kippelte und Zwischenrufe wie Ist doch blöd oder ist mir doch egal oder du Opfer nicht aus der Ruhe bringen ließ. Theo hatte rote Backen und sichtlich Freude an seiner Rolle. Doch was dran an der Theorie über Infantilität als Lebensbewältigungsstrategie, dachte ich.
Ich weiß nicht mehr, aufgrund welcher Schlussfolgerungen Schiefer dorthin gelangte, auf jeden Fall gab es am Ende keinen Beteiligten, der wenn er überhaupt noch am Leben war, nicht in ärztlicher Behandlung war.
Schiefer holte tief Luft, nahm das Glas Rotwein, leerte es in einem Zug und füllte es erneut. Die Hälfte ging daneben. Schiefer kümmerte es nicht.
Es gibt Varianten, sagte er. Und nach einer Pause: Im Verlauf. Nicht im Ergebnis.
Alle drei nahmen wir einen großen Schluck Wein.
Sieht nach einem gordischen Knoten aus, sagte ich mit Blick auf das verwirrende und undurchdringbare Geflecht von Pfeilen und Linien an der Tafel.
So, sagte Schiefer, jetzt passt auf, was passiert. Er nahm einen Schwamm in die Hand und wischte den Lehrer von der Tafel.
Theo und ich trauten unseren Augen nicht. Auf einmal bekam das Tafelbild etwas Luftiges, es war, als finge das Schaubild an zu schweben, als löste sich die Schwerkraft auf: Viele Pfeile gingen nun ins Leere oder verloren ihre Bedeutung weil ihr Ausgangs- oder Zielpunkt verloren gegangen war. Schiefer lachte und klatschte in die Hände vor Vergnügen. Ich habe es ausprobiert, sagte er, diesen Effekt gibt es nur beim Lehrer: Alles beginnt zu schweben.
Als ob die Schwerkraft aufgehoben ist, sagte Theo.
Schiefer nickte: das hast du schön gesagt, Theo. Genau so ist es, als ob die Schwerkraft aufgehoben ist. Und was passiert, wenn man schwebt?, fragte er: Ohne unsere Antwort abzuwarten, sagte er: Es werden Endorphine ausgeschüttet. Und was machen Endorphine?, fragte er weiter. Schiefer stand vor der Tafel mit fragenden Augen und hochgezogenen Augenbrauen und sah uns an, wie ein Lehrer, der einem auf die Sprünge helfen will: das ist doch nicht so schwer. Endorphine. Was machen Endorphine? Schließlich dauerte es ihm zu lange oder er fürchtete, eine falsche Antwort zu bekommen, und so schleuderte er uns die Antwort entgegen: Glücklich. Endorphine machen glücklich. Und als ob er selbst in diesem Moment einen gewaltigen Ausstoß an Endorphinen hatte, bekamen seine Gesichtszüge etwas Weiches, fast Zartes, als hätte er sich nach Tagen wieder mal rasiert. Wie ein Fußballer, der ein entscheidendes Tor geschossen hat, hob Schiefer jubelnd die Arme in die Luft, seine Augen leuchteten vor Stolz und Freude, und jetzt war es unverkennbar, dass genau in diesem Moment eine enorme Zahl von Endorphinen wild und mit hoher Geschwindigkeit durch seinen Körper raste - so glücklich sah er aus. Für Sekunden verharrte er in dieser Pose, sein Blick war weltentrückt.
Verstehst du, sagte Schiefer zu mir gewandt: Das Experiment mit den Hamstern musste schiefgehen. Glück ist keine Frage der Zeit, sondern der Schwerkraft.
Ich nickte zustimmend und bewunderte Schiefer, dass er ein Experiment, das es niemals gegeben hatte außer in seiner Phantasie, derart verinnerlichen konnte, als sei es Realität gewesen.
Theo wog bedenklich seinen Kopf. Angenommen, ich lösche mich selbst aus, sagte er, wer genau wird dann glücklich?
Vor allem du, sagte Schiefer.
Und nach und nach auch die anderen. Denk an den Witz mit den Wolken und den Lehrern - es wird ein schöner Tag. Du bist der zentrale Punkt. Stell dir vor, ein glücklicher Lehrer. Was könnte das für Auswirkungen haben. Schiefers Augen glänzten vor Freude.
Und wie soll das konkret aussehen?, fragte Theo weiter: Dass ich mich auslösche?
Das frage ich mich auch, sagte ich und versuchte mir vorzustellen, wie Schiefer Theo mit dem Schwamm einfach wegrubbelte. Ich fing an zu lachen.
Zum Lachen ist das nicht, sagte Schiefer. Letztlich ist alles eine Frage von Verantwortung: Wem oder was gegenüber ist man verpflichtet. Schiefer nahm die rechte Hand hoch und öffnete drei Finger.
Nehmen wir drei Menschen, sagte er: Soldat X, Jimi Hendrix und Mohammed Ali. Alle drei nutzen ihre Finger. Soldat X läuft unter den Stars and Stripes in den vietnamesischen Dschungel und hält den Finger am Abzug. Jimi Hendrix hält seine Finger an die Saiten seiner Gitarre und verzerrt die Star-Spangled Banner so, dass Amerikas Hymne nur noch ein Mix aus Jaulen, Kreischen, Maschinengewehrsalven und Bombeneinschlägen ist. Mohammed Ali wiederum verweigert den Dienst an der Waffe, muss dafür ins Gefängnis und verliert seinen Weltmeistertitel. Alles drei Äußerungen zu ein und derselben Sache. Alle drei fühlen sich unterschiedlichen Vorstellungen verpflichtet. Schiefer sah uns an und nahm einen Schluck Wein. Theo und ich schwiegen.
Drei Männer, drei Reaktionen, sagte Schiefer, ist doch nicht so schwierig.
Ich verstehe nicht, der Vietnamkrieg war vor vierzig Jahren, was hat das mit Lehrern zu tun.
Man muss sich entscheiden, sagte Schiefer, irgendwann muss man sich entscheiden. Ob man noch da steht, wo man einmal stehen wollte.
Was hat das mit Jimi Hendrix und Mohammed Ali zu tun?, fragte ich.
War Jimi Hendrix der Originalpartitur verpflichtet oder seiner Idee von Amerika?
War Mohammed Ali einem Einberufungsbefehl verpflichtet oder seinem Gewissen?
Bist du dem Kultusministerium verpflichtet oder deiner Idee von Bildung?
Was ist mit Verantwortung?, fragte ich. Verantwortung den Schülern gegenüber zum Beispiel.
Beim Schach hast du auch Verantwortung für deine Bauern und trotzdem musst du ein paar opfern, wenn du die Schlacht gewinnen willst.
Was schlägst du vor?, fragte Theo.
Ich denke, du solltest den Mohammed Ali machen. Er war der Größte.
Theo und ich starrten Schiefer an, als wäre er ein Wesen von einem anderen Stern. Schiefer machte ein zufriedenes Gesicht, nickte wiederholt und mit einer Stimme, als wäre es das Codewort, mit dem er einen Tresor knacken könnte, sagte er: verweigern.